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"Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld"

Passionskantate von Gottfried August Homilius

 

Wie bei vielen Komponisten, deren Wirken in die Zeit zwischen den musikalischen Giganten J. S. Bach und Mozart fiel, ist auch das umfangreiche musikalische Werk von Gottfried August Homilius weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei zählte Homilius zu seinen Lebzeiten wohl zu den beliebtesten Komponisten geistlicher Musik. Bereits wenige Jahre nach seinem Tod wird Homilius im Historisch-Biographischen Lexicon der Tonkünstler (1790) als „unser größter Kirchenkomponist“ bezeichnet. Sein Passionsoratorium „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ gehörte zu den wenigen Passionen, die im 18. Jahrhundert gedruckt vorlagen. Zahlreiche Abschriften und Aufführungen des Werks – etwa in Augsburg, Berlin, Breslau, Chemnitz, Frankfurt und vielen weiteren Städten – bestätigen dabei seine weite Verbreitung und Beliebtheit.

Geboren wurde Homilius 1714 im sächsischen Rosenthal als Sohn eines Pastors. In Leipzig wurde er 1735 als Jurastudent immatrikuliert, war zu dieser Zeit aber auch musikalisch aktiv und zählte zum Schülerkreis J. S. Bachs. Im Jahr 1755 wurde Homilius Kreuzkantor und Musikdirektor der drei Dresdner Hauptkirchen, ein Amt, das er bis zu seinem Tod im Jahr 1785 inne hatte. Wie anderen Ortes auch waren Passionsaufführungen in Dresden fester Bestandteil der Karwoche. Von Homilius sind neun Passionen überliefert. Darunter finden sich oratorische Passionen, die auf die Passionsberichte der biblischen Evangelien zurückgreifen und dabei historische Personen und den Evangelisten als neutralen Erzähler einbeziehen. Die Gattung des Passionsoratoriums oder der Passionskantate, zu dem auch die Komposition „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ zählt, stellt dagegen keine Nacherzählung des Evangelienberichtes dar, sondern nimmt vielmehr eine betrachtende Haltung ein. Dem Textdichter Ernst August Buschmann (1725-1775) geht es weniger um den genauen Ablauf der Geschichte, als um das Betrachten unterschiedlicher Aspekte des Passionsgeschehens: Der Furcht vor Gottes Zorn wird dabei immer wieder Gottes Gnade und Barmherzigkeit gegenübergestellt. Der menschlichen Schuld die Zuversicht auf Erlösung. An den formalen Höhepunkten wird die theologische Kernaussage des Textes dann jeweils zusammengefasst. So endet der erste Teil des Oratoriums mit einer Zusage aus Psalm 130: „Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.“ Den zweiten Teil beschließt der Chor mit den Worten: „Nun kann der Christ den Trost empfinden, dass Christus sein Erlöser ist.“

Durch Texte, die das Mitleiden mit Jesus ausdrücken und über die menschliche Schuld reflektieren wird das Passionsgeschehen geradezu persönlich nachempfunden. An zwei Stellen vermischt sich der Blick des Betrachters mit der Handlung und es kommen Personen des Passionsgeschehens selbst zu Wort: Jesus in der Bass-Arie „Ich bete, zürne nicht“ und Petrus in der Tenor-Arie „Nun wird mich, Gott, dein Donner fassen“. Und jeweils sind es Texte, die die Identifikation des Hörers mit den Handelnden besonders nahe legen.

Musikalisch ist Homilius der Zeit der Empfindsamkeit zuzuordnen. Dies zeigt sich insbesondere im Streben nach Einfachheit und Natürlichkeit als bewusste Abgrenzung von der Musik des Barocks. Die Arien vertont Homilius als kraftvolle Charakterstücke, die in ihrer Ausdruckskraft und Dramatik nicht selten an Opernpartien erinnern. Darüber hinaus prägen große Chorszenen das Oratorium, wobei sich auch mehrfach Mischformen aus Chor und Arie finden. Der Chor ist jedoch – anders als in den oratorischen Passionen – nicht auf die biblischen Turbae festgelegt. Er übernimmt vielmehr die Rolle der gläubigen Gemeinde, die das Geschehen miterlebt, beschreibt und reflektiert.

Julian Handlos

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